Körperpsychotherapie
Auf den Zusammenhang von Körper und Psyche zu schauen, ist ein wesentliches Element der Körperpsychotherapie. Durch den Körper werden psychische Erfahrungen erst möglich. Hier eine kurze Darstellung, auch aus naturwissenschaftlicher Sicht:
Menschliches Erleben
Unser Erleben setzt sich immer zusammen aus Sinneswahrnehmungen und den willkürlich erzeugten Körperbewegungen (Sensomotorik). Hinzu kommen die besonderen Qualitäten des Fühlens (Affekte: Interesse, Freude, Überraschung, Trauer, Wut, Ekel, Verachtung, Angst, Scham, Schuld).
Sensomotorik und Affekte wirken auf die Veränderung des subjektiven Befindens und Erlebens. Sie beeinflussen unsere Vorstellungs- und Denkinhalte.
Signalreize aus der Umwelt werden über die Sinne (das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten) aufgenommen und verbinden so Nervenzellen im Gehirn zu funktionellen Einheiten. Alle Wahrnehmungen und Vorstellungen beruhen auf Verschaltungen von Nervenzellen zu Nervenzell-Netzwerken. Diese werden durch das Lernen von etwas Neuem und wiederholte und intensivierte Erfahrungen geknüpft und verstärkt. Bei fehlender Anregung können sie auch verkümmern.
Erinnerung und Gedächtnis
Wie wir uns in der Gegenwart erleben und verhalten, wird in jeder Sekunde unseres Daseins auch durch Erinnerungen und entsprechende Verhaltens- und Reaktionsmuster bestimmt.
Aktuelle äußere Reize veranlassen das Gehirn in den bestehenden Nervenzell-Netzwerken nach ähnlichen Erinnerungen aus der eigenen Lebensgeschichte und den dazugehörigen Erlebnis- und Verhaltensmustern quasi zu suchen. Somit ist unser Erinnern vom jeweiligen Kontext abhängig, in dem wir uns befinden.
Man unterscheidet zwei Gedächtnisformen: Das explizite Gedächtnis, auch Wissensgedächtnis, speichert Tatsachen und Ereignisse. In ihm finden sich Episoden, Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben. Das im expliziten Gedächtnis gespeicherte autobiographische Wissen ist bewusst und kann in Sprache ausgedrückt werden.
Das viel umfangreichere implizite Gedächtnis wirkt sich auf unser Erleben und Verhalten aus. Der bewussten Aufmerksamkeit ist es nicht unmittelbar zugänglich und es enthält weder sprachliche noch bildhafte Inhalte. Es wird überwiegend von kurzen, impulsartigen Gefühlsregungen (Affekten) bestimmt. Seine sensomotorische Struktur bildet eine untrennbare Einheit mit dem Körper. Im impliziten Gedächtnis sind besonders auch die traumatischen Erinnerungen gespeichert.
Zwischenmenschliche Beziehungen
Für das Erleben und Gestalten zwischenmenschlicher Beziehungen benutzen wir reflexartig überwiegend implizites, d.h. intuitives Wissen - das sich im Verlauf aller bisherigen Beziehungserfahrungen unseres Lebens entwickelt hat.
Es gibt verunsichernde Beziehungserfahrungen, die existentiell sind. Dazu zählen die gestörte Zuverlässigkeit von Bindungen, Ängste vor dem Verlust von Beziehungen und Personen oder auch tatsächlich erlittene Verluste. Daraus folgen sehr oft verinnerlichter Anpassungsdruck an die Bedürfnisse anderer und gleichzeitig eine zu starke Zurückstellung eigener Bedürfnisse. Und nicht zuletzt beeinflussen Erfahrungen von Gewalt die Gegenwart von Menschen nachhaltig.
All diese Erfahrungen hinterlassen manchmal schwerwiegende psychische Spuren und gesundheitliche Beschwerden. Insbesondere befriedigende, erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen können nicht erlebt und gestaltet werden. Aus diesem Mangel entsteht das Bedürfnis und oft die Notwendigkeit, zu lernen, über alte Gewohnheiten und Muster hinauszuwachsen und den eigenen Lebensstil zu ändern.
Wahrnehmung und Lernen
Wir erfahren uns und unsere Umwelt also in der Interaktion mit ihr und durch den Körper. Was wir wahrnehmen und woran wir uns erinnern entspricht -laut Gehirnforschung- dabei keineswegs einer objektiven und feststehenden Wahrheit. Das Erleben unserer menschlichen Welt veranlasst das Gehirn aus elektrischen und chemischen Signalen ständig neue Vorstellungen und Empfindungen zu konstruieren. So passt sich der Mensch immer wieder seiner Umwelt an. Lebensgeschichtlich geprägte Strukturen sind folglich veränderbar. Die menschlichen Nervenzell-Netzwerke können sich also weiterentwickeln oder neu entstehen - bis ins hohe Alter.
Die potentielle Anpassungsfähigkeit oder auch Lernfähigkeit des Gehirns (Neuroplastizität), ist abhängig davon, was wir erleben und was wir tun. Wiederholte Reize zu erfahren intensiviert das Lernen und führt zu einer intensiveren Verbindung der betroffenen Nervenzellen. Mit fortschreitendem Lernprozess werden zunehmend gezieltere und differenzierte Reaktionen möglich. Das wirkt sich auf die Fähigkeiten der Selbstreflexion und -regulation aus. Besonders unser Körperbild, unser Selbstbild und unser Selbstgefühl sind auf eine fortlaufende Bestätigung durch Sinnesreize und den ununterbrochenen Zufluss aktueller sensorischer Daten angewiesen.
Psychische Struktur ist also dynamisch und von der aktuellen körperlichen Verfassung und Beziehungserfahrungen abhängig. Frühkindliche Einflüsse und Erlebnisse, die unseren Charakter geprägt haben, beeinflussen am stärksten wie spätere Erfahrungen verarbeitet werden.
"Unser Gehirn vernetzt sich, denkt und arbeitet so, wie wir es benutzen, und neue Vernetzungen bilden sich vor allem dann besonders rasch heraus und werden immer dann besonders fest verknüpft, wenn das, womit wir uns intensiv beschäftigen, für uns von ganz besonderer Bedeutung ist - wenn es unter die Haut geht, wenn es uns begeistert, aufregt oder auf andere Weise mit einer Aktivierung der emotionalen Zentren in den tieferliegenden Bereichen unseres Gehirns einhergeht."(Gerald Hüther, Männer, 2009, S.59)
Körperpsychotherapie
Häufig leben wir in einem gestörten Verhältnis zu eigenen inneren Empfindungen, die wir dadurch nur unvollständig wahrnehmen oder blockieren. Viele psychische und daraus resultierende körperliche Probleme haben ihre Ursache in dieser gestörten Beziehung zu uns selbst. Daher hat der Prozess der seelischen Veränderungen immer damit zu tun, wieder einen gesunden Zugang zum eigenen Fühlen zu finden.
„Alleine durch Denkvorgänge oder Willensanstrengungen sind die aus der Lebenserfahrung geronnenen Gehirnstrukturen nicht wieder veränderbar. Dazu braucht es vor allem neue ganzheitliche Erfahrungen, die das Wahrnehmen, Fühlen und Denken umfassen, welche dann neue Selbstorganisationsprozesse des psychosomatischen Netzwerkes in Gang setzen.“ (Franz Ruppert - Trauma, Angst und Liebe, 2012, S.51)
Die Körperpsychotherapie erlaubt, (therapeutische) Beziehungssituationen unter Einbeziehung aller Sinnesorgane, der Affekte und der Motorik bewusst zu gestalten. Damit geht sie über ausschliesslich sprachliche Therapiekonzepte hinaus. Dieses geschieht sowohl in der Einzelsitzung als auch in der Gruppentherapie. Es geht darum, achtsames Erleben -die Selbsterfahrung- neu zu entdecken und zu vertiefen. Die Art und Weise und das Ausmaß der eigenen Identifikation mit gewohnten, unflexiblen Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern darf erkannt und nach und nach aufgegeben werden.
Unser aktuelles Erleben ist von Erinnerungen beeinflusst und kann Erinnerungen auslösen. In der Körperpsychotherapie bieten wir einen Erfahrungsraum für intensive Sinneseindrücke und Körperbewegungen. Diese können beispielsweise erzeugt oder verstärkt werden, indem in bestimmten Settings und Übungen ganz bewusst unterschiedliche Stimmungen simuliert werden, die bei jedem Menschen in Erinnerungen latent vorhanden sind. Diese Stimmungen zu fühlen kann spezifische Erinnerungen an eigene wesentliche Lebensereignisse und Tatsachen an die Oberfläche bringen. So erlangen wir unmittelbaren Zugang zum impliziten Gedächtnis. Lange Verdrängtes oder Inhalte traumatischer Erfahrungen können in einem heilsamen Rahmen wiedererlebt werden. Bedeutsame neue Begegnungen oder Beziehungserfahrungen, die eine liebevolle und unterstützende Qualität haben, helfen dabei alte Erinnerungen zu verändern.
Wenn diese Erfahrungen in der Therapiearbeit dann auch einen sprachlichen Ausdruck bekommen und vertieft werden, werden sie für zukünftige Situationen der gleichen emotionalen Qualität im expliziten Gedächtnis abrufbar. Derartige ganzheitliche Erfahrungen können also auch unsere kognitive Selbstwahrnehmung positiv erweitern – und uns eine erlernbare Möglichkeit der Selbstveränderung anbieten.
In der Körperpsychotherapie versuchen wir deshalb besonders in Begegnungen mit uns selbst und mit anderen Menschen in unterschiedlichsten Settings auch ungewohnte Reaktionen zu erlauben. Dabei lernt man einen neuen Umgang mit den eigenen Impulsen kennen und ungewohnte Fragen zu stellen. Es wird ein liebevoller Raum für neue emotionale Erfahrungen, Empfindungen jeglicher Art und ihre Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet - um dann auch im Alltag neue Sicht- und Verhaltensweisen wagen zu können. Vor allem dort, wo bisher durch Angst, übergroße Scham oder Rücksichtnahme eine Einengung bestand. Das erinnerte gewohnte Erleben relativiert sich und wird in diesem Lernprozess im günstigen Fall nach und nach abgelöst.
Das Ganze geschieht im Rahmen von tragfähigen Beziehungen, die sich in der kontinuierlichen Einzel- oder Gruppenarbeit zu TherapeutIn und anderen Teilnehmern entwickeln können.
Letztendlich ermöglicht die Körperpsychotherapie eine größere Auswahl an Verhaltensweisen. Wir können nun wählen zwischen den manifestierten, unbefriedigenden oder gewohnten Verhaltensmustern und einem Verhalten, das aus der neu entstandenen Selbstliebe entspringt. Einer Selbstliebe, die das liebevolle eigene Sein auf die Beziehung zu anderen Menschen und schließlich die ganze Schöpfung ausdehnt.